Harvard-Konzept als Zeichen für konstruktive Kommunikation: Verhandeln mit Verstand und Haltung

Sachlich, konstruktiv, lösungsorientiert – so soll eine gute Verhandlung verlaufen. Das Harvard-Konzept zeigt, wie man mit klaren Prinzipien und empathischer Kommunikation auch in schwierigen Situationen zu tragfähigen Einigungen gelangt. Die praktische Umsetzung der vier Grundprinzipien des Harvard-Modells zeigt, warum gerade kommunikative Fähigkeiten den Unterschied zwischen Eskalation und Einigung ausmachen.

Von Prof. Dr. Patrick Peters, Professor für Kommunikation und Nachhaltigkeit und Prorektor für Forschung und Lehrmittelentwicklung an der Allensbach Hochschule

Verhandlungen gehören zum Alltag – in der Wirtschaft, in der Politik, im privaten Leben. Doch allzu oft verlaufen sie konfrontativ, emotional aufgeladen und ineffizient. Die Vorstellung, dass es immer Gewinner und Verlierer geben müsse, prägt noch immer viele Verhandlungsstile. Das Harvard-Konzept stellt diesem Nullsummendenken ein alternatives Modell entgegen: Es geht davon aus, dass ein Interessenausgleich möglich ist, ohne dass eine Partei auf der Strecke bleibt. Entwickelt wurde das Konzept im Program on Negotiation der Harvard Law School, maßgeblich durch Roger Fisher, William Ury und Bruce Patton (Fisher, Ury & Patton, 2011). Ihre Grundüberzeugung lautet: Erfolgreiche Verhandlungen beruhen auf Sachorientierung, nicht auf Positionsdenken – und gelingen nur mit klarer, respektvoller Kommunikation.

Trennung von Person und Problem

Einer der Grundpfeiler des Harvard-Konzepts ist die konsequente Trennung zwischen sachlichen und zwischenmenschlichen Ebenen. In klassischen Verhandlungen werden persönliche Differenzen oft mit sachlichen Inhalten vermischt – ein gefährlicher Fehler, der Konflikte eskalieren lässt. Das Harvard-Modell fordert dagegen, die Beziehungsebene aktiv zu pflegen, während man zugleich das Sachproblem objektiv und analytisch bearbeitet. In der Praxis heißt das: Auch wenn die Gegenseite eine Forderung stellt, die man ablehnt, darf dies nicht zu Abwertung, Abwehr oder gar Feindseligkeit führen. Vielmehr soll die Kommunikation empathisch und lösungsorientiert bleiben. Das bedeutet auch, die Sichtweise der Gegenseite zu verstehen, ihre Beweggründe zu respektieren und Missverständnisse durch aktives Zuhören zu klären. Die Herausforderung liegt darin, Kritik nicht gegen Personen zu richten, sondern auf eine Art und Weise zu formulieren, die Deeskalation und Kooperation ermöglicht. Gute Kommunikationsstrategien – etwa Ich-Botschaften, Spiegelungen oder metakommunikative Elemente – sind hierbei unverzichtbar.

Konzentration auf Interessen, nicht auf Positionen

Oft gehen Verhandlungsparteien mit fixen Forderungen in Gespräche, die scheinbar unvereinbar sind. Das Harvard-Konzept schlägt vor, diesen Irrweg zu vermeiden, indem man nicht bei Positionen stehen bleibt, sondern nach den dahinterliegenden Interessen fragt. Interessen sind die eigentlichen Beweggründe, die erklären, warum eine Position eingenommen wird. Indem diese offengelegt werden, entsteht ein tieferes Verständnis für die Lage der Gegenseite – und damit ein Potenzial für gemeinsame Lösungen. In der Kommunikation bedeutet das, gezielt Fragen zu stellen wie: „Was ist Ihnen dabei besonders wichtig?“ oder „Welche Ziele verfolgen Sie damit?“ Durch solche Fragen wird die Beziehungsebene gestärkt, und es öffnen sich inhaltliche Spielräume. Für professionelle Verhandlerinnen und Verhandler ist die Fähigkeit zur empathischen Gesprächsführung daher zentral: Wer Interessen erkennt und benennt – auch die eigenen –, kann besser vermitteln, warum bestimmte Ergebnisse sinnvoll sind, und konstruktive Dialoge führen, anstatt auf Konfrontation zu setzen.

Entwicklung von Entscheidungsoptionen zum beiderseitigen Vorteil

Statt sofort auf der Durchsetzung einer favorisierten Lösung zu bestehen, empfiehlt das Harvard-Modell, zunächst Optionen zu entwickeln – idealerweise gemeinsam mit der Gegenseite. Der Unterschied zu einem Kompromiss liegt darin, dass nicht einfach „geteilt“ wird, sondern dass kreative, neu gedachte Lösungen entstehen. Dieses kooperative Vorgehen erfordert die Fähigkeit, Perspektiven zu wechseln und Denkgrenzen aufzubrechen. Die Methode des brainstormings without commitment hilft dabei, sich zunächst unvoreingenommen auf mögliche Szenarien einzulassen. In der Kommunikationspraxis ist dafür eine Atmosphäre psychologischer Sicherheit erforderlich, in der alle Beteiligten Ideen einbringen können, ohne sofort bewertet oder kritisiert zu werden. Für Führungskräfte, Mediatoren oder Einkäufer:innen bedeutet das, nicht nur rational zu denken, sondern aktiv einen Gesprächsraum zu gestalten, der Kreativität ermöglicht. Dabei ist es hilfreich, Optionen immer wieder an den Interessen beider Seiten zu spiegeln, um tragfähige Lösungen zu identifizieren, die einen echten Mehrwert bieten.

Orientierung an objektiven Entscheidungskriterien

Der vierte Grundsatz fordert, Entscheidungen auf objektive, nachvollziehbare und für beide Seiten akzeptable Maßstäbe zu stützen. Das können Marktdaten, rechtliche Normen, Benchmarks oder technische Standards sein. Der Vorteil dieser Vorgehensweise liegt auf der Hand: Objektive Kriterien schaffen Legitimität. Sie nehmen Verhandlungen die persönliche Schärfe, weil nicht mehr individuelle Machtpositionen oder Willensakte entscheidend sind, sondern allgemein akzeptierte Maßstäbe. In der Kommunikation ist das Ziel, diese Kriterien verständlich zu machen, sie transparent in den Dialog einzubringen und zu erklären, warum sie sinnvoll sind. Wer beispielsweise einen bestimmten Preis verteidigen will, kann diesen an vergleichbaren Marktbedingungen oder branchentypischen Standards argumentativ verankern. Die Fähigkeit, Informationen zu strukturieren, anschaulich darzustellen und nachvollziehbar zu vermitteln, ist hier essenziell. Wer überzeugend kommuniziert, wirkt souverän und stärkt die Verhandlung insgesamt.

Praxisbeispiel: Lieferantengespräch mit Verhandlungspotenzial

Wie diese Prinzipien in der Realität wirken, zeigt sich im Fall eines Industrieunternehmens, das mit einem langjährigen Lieferanten über neue Konditionen verhandeln muss. Der Lieferant fordert eine Preiserhöhung von 15 Prozent. Statt reflexhaft mit Ablehnung zu reagieren, geht die Einkäuferin den Weg des Harvard-Modells. Sie beginnt mit einer klaren und sachlichen Gesprächseinladung: „Ich schätze unsere Zusammenarbeit sehr. Lassen Sie uns gemeinsam prüfen, wie wir auf die aktuellen Veränderungen reagieren können.“ In der folgenden Analyse der Interessen wird deutlich, dass gestiegene Energiekosten die Hauptursache sind – allerdings betreffen diese nur einen Teil der gelieferten Komponenten. Beide Seiten entwickeln in einem offenen Gespräch Optionen: eine vorübergehende Preisgleitung, Mengenrabatte ab bestimmten Abnahmemengen und die Prüfung alternativer Materialien. Die Entscheidung fällt auf eine Kombination dieser Maßnahmen – gestützt auf aktuelle Marktindizes und Produktionsdaten. Der Vertrag wird auf dieser Basis angepasst. Keine Seite verliert das Gesicht, beide gewinnen an Vertrauen. Kommunikation auf Augenhöhe macht den Unterschied.

Kommunikative Konsequenzen: Sprache als Brücke zwischen Interessen und Lösungen

Das Harvard-Konzept ist mehr als ein methodisches Gerüst für rationale Verhandlungen. Es ist ein Kommunikationsmodell, das auf Respekt, Klarheit und Dialogfähigkeit setzt. Wer erfolgreich verhandeln will, muss nicht nur Argumente liefern, sondern eine Gesprächsatmosphäre schaffen, in der gegenseitiges Verständnis entstehen kann. Dies erfordert Übung, emotionale Intelligenz und die Bereitschaft, Kommunikation als aktives Werkzeug zu begreifen. Die Prinzipien des Harvard-Modells lassen sich in verschiedensten Kontexten anwenden – von der Unternehmensführung über Tarifverhandlungen bis zur interkulturellen Diplomatie. In allen Fällen gilt: Gute Kommunikation ist der Schlüssel. Denn nur wer versteht, wie man verhandelt, kann erreichen, was man wirklich will.

Bibliographie

  • Fisher, R., Ury, W., & Patton, B. (2011). Das Harvard-Konzept: Der Klassiker der Verhandlungstechnik (17. ). Campus Verlag.
  • Ury, W. (1993). Getting Past No: Negotiating in Difficult Situations. Bantam Books.
  • Körber, M. (2020). Erfolgreich verhandeln mit dem Harvard-Konzept. Springer Gabler.