Hermann Hesses „Die Morgenlandfahrt“ und das Servant Leadership-Konzept

In seiner Erzählung „Die Morgenlandfahrt“ entwirft der deutsche Schriftsteller Hermann Hesse ein besonderes Bild des Dienens. Daraus hat der US-amerikanische Denker Robert K. Greenleaf die Idee des Servant Leadership entwickelt. Demnach ist eine Führungskraft, die das Vertrauen ihrer Anhänger genießt, in erster Linie ein Diener.

Von Prof. Dr. Patrick Peters, Prorektor für Forschung und Lehrmittelentwicklung an der Allensbach Hochschule

Der deutsche Schriftsteller und Nobelpreisgewinner Hermann Hesse (1877 bis 1962) ist einem breiteren Publikum vor allem durch seinen 1927 erschienenen Roman „Der Steppenwolf“ und seine Erzählungen „Siddhartha“ und „Narziß und Goldmund“ bekannt. Dass Hermann Hesse aber mit seiner Erzählung „Die Morgenlandfahrt“ ein besonderes Leadership-Konzept beeinflusst hat, weiß kaum jemand. Das geht auf den US-Amerikaner Robert K. Greenleaf zurück, eine der wichtigsten Persönlichkeiten in den Bereichen Führung, Bildung und Management. Greenleaf hat 1977 das Buch „Servant Leadership“ geschrieben, in dem er vorschlägt, dass eine Führungskraft, die das Vertrauen ihrer Anhänger genießt, in erster Linie ein Diener ist. Um ein wahrer, ein dienender Leader, zu sein, muss man einfach nur dienen.

„Die Morgenlandfahrt“ handelt von einer Gruppe von Menschen, die sich auf eine spirituelle Reise ins Morgenland begeben, um nach Erkenntnis und innerer Erfüllung zu suchen. Dieser geheime Bund der Morgenlandfahrer ist genauso märchenhaft wie die gesamte Konstellation der Erzählung: Die Morgenlandfahrer durchstreifen Schwaben, Italien und den Orient, nächtigen im zehnten Jahrhundert, wohnen bei Patriarchen und Feen und treffen literarische Gestalten wie Parzival und Klingsor aus dem Mittelalter, begegnen staufischen Kronenwächtern, die den Bund für die Eroberung Siziliens einnehmen wollen, irischen Mönchen und spanischen Rittern.

Diener ist der Oberste der Oberen des Bundes

Entscheidend für die Entwicklung des Servant Leadership ist die Figur des Dieners Leo. Er begleitet die Morgenlandfahrer ruhig und gelassen und verschwindet eines Tages einfach. Der Bund gerät daraufhin in eine schwere Krise, die Reisenden verlieren Glauben und Zuversicht. Und auch der Hauptdarsteller H.H., ein Musiker und eigentlich treu ergebenes Mitglied des Bundes, zweifelt so sehr, dass er den Bund verlässt. Er will aber die Geschichte des Bundes erzählen, was ihm nicht adäquat gelingt, und macht sich daher auf die Suche nach dem Diener Leo, den er schließlich findet und der sich als Oberster der Oberen des Bundes herausstellt. H.H. wird wieder, nach einem persönlichen Läuterungsprozess, in den Bund aufgenommen und erkennt seine eigenen Verfehlungen in seinem „verzweifelte[n], dumme[n], engstirnige[n], selbstmörderische[n] Leben“ (Hesse 2021, S. 90) der vergangenen Jahre.

Das Dienen ist Gesetz

Im Mittelpunkt des Bundes steht nun eben das Konzept des Dienens, das die Hauptfigur H.H. erst spät versteht, aber von Leo – dem Höchsten, der sich zum Niedrigsten macht – kontinuierlich gelebt wird. Für Leo ist das Dienen ein Gesetz: „Was lange leben will, muß dienen. Was aber herrschen will, das lebt nicht lange. […] Es gibt wenige, die zum Herrschen geboren sind, sie bleiben fröhlich und gesund. Die andern aber, die sich bloß durch Streberei zu Herren gemacht haben, die enden alle im Nichts.“ (Hesse 2021, S. 34) Dass die Morgenlandfahrt nach dem Verschwinden des Diener-Obersten Leo so tragisch und verzweifelt endet, kann nur bedeuten, dass mit dem Wegfall des Dienens auch die innere Struktur und der eigentliche Zusammenhalt der Gruppe zerbrochen ist: „‚Es war das Ausbleiben des Dieners Leo, das uns plötzlich und grausam die Abgründe von Uneinigkeit und Ratlosigkeit enthüllte, welche unsern bisher anscheinend so festen Zusammenhalt zerrissen‘“ (Hesse 2021, S. 97f.), liest die Hauptfigur in einem anderen Bericht über die unseligen Ereignisse in der Schlucht von Morbio Inferiore.

Der Führer war zuerst Diener

Wie leitet nun Robert K. Greenleaf seine Servant Leadership-Idee aus dem literarischen Werk ab? Er schreibt einleitend dazu: „[F]ür mich sagt diese Geschichte ganz klar, dass der große Anführer in erster Linie als Diener gesehen wird, und diese einfache Tatsache ist der Schlüssel zu seiner Großartigkeit. Leo war eigentlich die ganze Zeit der Anführer, aber er war zuerst ein Diener, weil er das tief in seinem Inneren war. Die Führungsrolle wurde einem Mann übertragen, der von Natur aus ein Diener war. Sie war etwas Gegebenes oder Angenommenes, das weggenommen werden konnte. Seine Dienernatur war der eigentliche Mensch, nicht gegeben, nicht angenommen und nicht wegzunehmen. Er war zuerst Diener.“ (Greenleaf o.J., S. 2)

Definition von Servant Leadership

Damit können wir zu einer Definition von Servant Leadership kommen (angelehnt an Spears 1996 und Smith 2005). Das Modell fordert mit seinem vermeintlich offensichtlichen begrifflichen Widerspruch des dienenden Führens dazu auf, das Wesen von Führung zu überdenken. Servant Leadership ist eine neue Art von Führungsmodell – ein Modell, das den Dienst am Nächsten an die erste Stelle setzt. Dienende Führung betont auch einen ganzheitlichen Ansatz bei der Arbeit, die Förderung des Gemeinschaftssinns und die Teilung der Macht bei der Entscheidungsfindung. Dienende Führung beginnt, wenn eine Führungskraft die Position eines Dieners in der Interaktion mit seinen Anhängern einnimmt. Sie fordert Organisationen heraus, die Beziehungen zwischen Menschen, Organisationen und der Gesellschaft als Ganzes neu zu überdenken und stellt die Fähigkeit der Institution in Frage, menschliche Dienstleistungen zu erbringen.

Nur eine Gemeinschaft, in der die Individuen füreinander verantwortlich sind, kann diese Funktion erfüllen. Effektive dienende Führung zeigt sich am besten durch die Kultivierung von dienender Führung in anderen. Durch die Förderung eines partizipativen, befähigenden Umfelds und die Ermutigung der Talente der Gefolgsleute schafft die dienende Führungskraft eine effektivere, motiviertere Belegschaft und letztlich eine erfolgreichere Organisation.

Schwerpunkt liegt auf dem Prozess des Dienens

Das bedeutet: Dienende Führung ist eine Philosophie und eine Reihe von Praktiken, die das Leben von Einzelpersonen bereichern, bessere Organisationen aufbauen und letztlich eine gerechtere und solidarischere Welt schaffen. Die zehn Prinzipien der dienenden Führung lauten daher: Zuhören, Empathie, Heilung, Bewusstheit, Überzeugung, Konzeptualisierung, Weitsicht, Verantwortungsbewusstsein, Bekenntnis zum Wachstum und Gemeinschaft. Zu den zentralen Konstrukten der dienenden Führung gehören ein angeborener Wert und der Wunsch zu dienen, die Bereitschaft, diesem Wunsch entsprechend zu handeln, und das Vertrauen der Geführten. Die Weitsicht der Führungskraft und die Fähigkeit, dieses Wissen konstruktiv umzusetzen, wenn sie die Möglichkeit dazu hat, leiten sich aus ihrer Ethik ab und sind ein grundlegender Bestandteil.

Daraus ergeben sich folgende Prämissen für das dienende Führen:

  • Der Leader ist zuerst ein Diener. Es beginnt mit dem natürlichen Gefühl, zuerst dienen zu wollen.
  • Der Diener sorgt zuerst dafür, dass die vorrangigen Bedürfnisse der anderen erfüllt werden.
  • Erfolg ist, wenn diejenigen, denen gedient wird, gesünder, freier, autonomer und weiser werden und dadurch selbst zu Dienern werden.
  • Ein Diener kann nur dann zu einem Führer werden, wenn der Führer ein Diener bleibt.

Es braucht Demut für echten Aufstieg

Greenleaf will ausdrücke, dass Dienen und Führen keine Gegensätze sind. Die Eignung zur Führung geht aus der Bereitschaft zum Dienen hervor. Wie man am Beispiel von Leo („der einstige Diener und Gepäckträger“ (Hesse 2021, S. 85)) in „Die Morgenlandfahrt“ sieht, ist das Führen eine besondere Kategorie des Dienens. Es braucht Demut in der Wirtschaft, um in obere Ränge aufsteigen zu können. H.H. erkennt, dass sein Bestreben, eine Geschichte des Bundes zu schreiben, den er nicht verstanden hat, „namenlos töricht, namenlos lächerlich“ (Hesse 2021, S. 83) war und dass er, „zu einem Stäubchen eingedorrt“ (Hesse 2021, S. 83), aus dieser Selbsterkenntnis wieder neu ersteht:

„Aber noch viel mehr ergriffen, betroffen, bestürzt und beglückt war ich von der großen Entdeckung dieses Tages: daß der Bund vollkommen unerschüttert und mächtig wie je bestehe, daß nicht Leo und nicht der Bund es war, die mich verlassen und enttäuscht hatten, sondern daß nur ich so schwach und so töricht gewesen war, meine eigenen Erlebnisse mißdeutend, am Bund zu zweifeln, die Fahrt ins Morgenland als mißglückt zu betrachten und mich für den Überlebenden und Chronisten einer erledigten und im Sand verronnenen Geschichte zu halten, während ich nichts war als ein Davongelaufener, untreu Gewordener, ein Deserteur.“ (Hesse 2021, S. 85f.)

Dieser Artikel erscheint als verkürzte Vorversion eines Aufsatzes des Autors in der Zeitschrift für Interdisziplinäre Ökonomische Forschung der Allensbach Hochschule Konstanz im Dezember 2023.

 

Greenleaf, Robert K. (o.J.): The Servant as Leader. Zugriff am 20. Juni 2023 unter http://www.ediguys.net/Robert_K_Greenleaf_The_Servant_as_Leader.pdf.

Hesse, Hermann (2021): Die Morgenlandfahrt. 20. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag.

Smith, Carol (2005): Servant Leadership: The Leadership Theory of Robert K. Greenleaf. Zugriff am 20. Juni 2023 unter https://www.boyden.com/media/just-what-the-doctor-ordered-15763495/Leadership%20%20Theory_Greenleaf%20Servant%20Leadership.pdf.

Spears, Larry (1996): Reflections on Robert K. Greenleaf and servant-leadership. In: Leadership & Organization Development Journal, 17(7), pp. 33—35.

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